Ein studentischer Bericht von Anna Buterus zur Exkursion in den Dovrefjell-Sunndalsfjella-Nationalpark:
Zunächst war mir klar: „Ich muss unbedingt in den Kurs „Erfahrung, Erlebnis und Abenteuer in der Pädagogik“ (3.2 LV1 & 4) von Holger Wendelin und Anja Gröschel! Ich möchte unbedingt eine mehrtägige Wanderung fernab von Zivilisation mitmachen und Skandinavien in echt, statt nur durch Kalender- und Hintergrundbilder erleben!“
Im Laufe des Semesters rückte das Datum der Abreise immer näher. Doch je greifbarer es wurde, desto größere Zweifel machten sich in mir breit. Schaffe ich es denn wirklich so viele Tage unterwegs zu sein? Schaffe ich das mit meinen manchmal schmerzenden Knien? Was, wenn die ganze Gruppe wegen mir nicht weiterkommt? Passt überhaupt alles in meinen Rucksack? Und am wichtigsten noch: Werde ich wirklich nicht verhungern?
Bei den Exkursionsvorbereitungen wurde es zwar immer realer, doch für mich wirkte das alles nach wie vor wie eine Träumerei, die ich von mir sehr gut kenne. Trotz der für mich noch immer fern erscheinenden großen Reise, machte ich mich langsam an die Besorgungen. Ganz schön kostspielig so eine Wanderausrüstung! Gut, dass ich mir einiges, wie zum Beispiel den Schlafsack mit Komfortbereich 0°C, im Bekanntenkreis ausleihen konnte. Die Notwendigkeit dieses Komfortbereichs stellte ich immer wieder in Frage – in Deutschland kamen wir aus dem Schwitzen kaum raus, da das Thermometer sich stets an der 40°C Grenze bewegte. Gegenüber der Verpflegungsliste war ich auch skeptisch: pro Tag 150 Gramm Müsli, also mehr als ein Kilo für sieben Tage, 0,4 Liter Milchpulver, 50 Gramm Wurst, 50 Gramm Käse, 50 bis 100 Gramm Schokolade/Studentenfutter, eine 5-Minuten-Terrine, ein Tüten-/Pastagericht und für die Woche außerdem noch Kakaopulver, Kaffee, Tee, Zucker (150 Gramm pro Person), Brot/Brotersatz. Hm. Okay. Ich weiß nicht wie es den anderen ging, doch ich hatte bei dieser Aufzählung große Bedenken, davon wirklich satt zu werden. Bei Essen hört bei mir der Spaß auf. Da ich mit mehrtägigen Wanderungen ohne Zugang zur Infrastruktur, also nicht mal ein Kiosk oder ähnliches(!), keine Erfahrungen habe, muss ich der Packliste wohl Vertrauen schenken. Auf dem Plan meiner Veggi-Kochgruppe, standen Bulgur, Kartoffelpüree aus der Tüte und instant Nudelgerichte. Dazu noch der ein oder andere getrocknete Schnickschnack, wie Oliven, Tomaten, Backerbsen, Croutons, Röstzwiebeln etc. Gegenüber der Kleidungsempfehlung war ich aber auch stutzig: drei Paar Socken, zwei Unterhosen, ggf. eine lange Unterhose ein bis zwei Shirts, ein langärmliges Hemd, Halstuch, Fleecejacke, Regenjacke (oder Kraxenponcho – was auch immer das sein mochte), Regenhose, Mütze, Hut, Handschuhe, Trekkinghose lang und kurz, ggf. Badekleidung, Schweißband, Bergschuhe, Badeschlappen, Regenüberzug für Rucksack und ggf. Trekkingstöcke. Auch das wirkte auf den ersten Blick sehr wenig.
Nachdem ich, für meine Verhältnisse, viel Geld in all diese Dinge investiert und auch die Summe der Selbstbeteiligung überwiesen habe, wurde mir klar, dass ein Rückzieher für mich außer Frage stand. Kurz vor der Abreise checkte ich die Packliste dutzende Male ab und wog den Rucksack. Immer wieder kam ich auf 23 Kilo. Das war zwar noch im Rahmen der empfohlenen Gewichts, dennoch bedankten sich der Körper für jedes Gramm, das eingespart werden konnte. Verrückt, dass die Lebensmittel fast zwei Drittel des Platzes eingenommen haben und dass Kleidung aus Polyester/Merinowolle im Vergleich zu Baumwolle einen gewichtigen Unterschied machen. Also wog ich im wahrsten Sinne des Wortes, fast jedes Teil, das ich mit auf die Reise nahm, ab.
Bevor ich am Samstag, den 13.08.22 in die Straßenbahn in Richtung Hochschule stieg, stopfte ich doch noch das ein oder andere Teil in den Rucksack. Die Nähte schienen schon längst an ihrer Belastungsgrenze angekommen zu sein und ich machte mir hin und wieder Sorgen, ob ich mir nicht doch besser einen neuen und hochwertigeren Trekkingrucksack hätte holen sollen. Immerhin nutze ich ihn seit mindestens zehn Jahren häufig für Reisen, Festivals und Umzüge und ist „nur“ von der Decathlon Eigenmarke. In das Teil soll dann noch das Gruppenzelt oder die Kochausrüstung passen? Never ever!, hab ich mir gedacht. Mit Hilfe einer Kommilitonin, der Verabschiedung des ein oder anderen Snacks oder Kleidungsstücks und dem Kompressionsbeutel des Schlafsacks passte tatsächlich noch das Gruppenzelt rein.
Kaum war alles in den drei Sprintern verstaut und wir auf der Autobahn, ging alles ziemlich schnell. Früh am Morgen kamen wir zunächst in Dänemark an. Da wir noch ein wenig Zeit hatten, bis wir auf die Fähre fahren konnten, haben wir den Sonnenaufgang am Meer genossen. Beim Aussteigen aus dem Auto bezweifelte ich zunächst überhaupt irgendein Kleidungsstück auszuziehen, geschweige denn barfuß am Ufer entlang zu spazieren. Zum Schluss habe ich mich sogar alleine für einen kurzen Plansch ins Wasser gewagt.
In Norwegen haben wir in der ersten Nacht auf einem Campingplatz übernachtet. Dort wurden wir von einer riesigen Menge Mücken überrascht. Erst in dem Augenblick fiel mir ein, dass ich von einigen hörte, dass ich gutes Anti-Mücken-Zeug mit im Gepäck haben sollte. Für jeden von uns gab es eine Duschmarke - die letzte Möglichkeit zu duschen, bevor es dann für sechs Tage in den Nationalpark geht.
Ein letzter Check der persönlichen Gegenstände. Mit den voll beladenen Rucksäcken wanderten wir dann los. Auch Lupo, Holger Wendelins Wolfshund, trug selbstbewusst seinen mit Proviant gefüllten kleinen roten Rucksack auf seinem Rücken. Die ersten Tage der Wanderung waren für mich nach wie vor ziemlich surreal, aber wunderschön. Ich habe sehr viele Fotos von der Landschaft gemacht und habe es genossen für mich alleine zu wandern. Wir liefen über viele Wiesen und Steine und überquerten kleinere und größere Bachläufe. Ich erinnere mich an kleine weiße flauschige Blumen, die mit dem Wind getanzt haben. Das Wetter war nicht besonders auf unserer Seite und erhöhte unseren Schwierigkeitsgrad.
Die Sonne machte sich rar und der Regen wurde zu unserem täglichen Begleiter. An einem Tag schüttete es unaufhörlich. Ausgerechnet an diesem Tag mussten wir einen hohen felsigen Pass überqueren. Aus der Ferne habe ich nicht geglaubt, dass wir diese Felsbrocken überqueren werden. Ich dachte, irgendwo wird doch wohl ein Wanderweg versteckt sein. Pustekuchen, gab es nicht. Also sind wir wie vorsichtige Bergziegen dort hoch. Das war der einzige Moment, in dem ich meine persönliche Grenze erreicht habe. War das schon meine Panikzone? Sicher bin ich mir nicht, ich weiß nur noch, dass ich mich auf nichts mehr konzentrieren konnte, außer darauf, bloß nicht zurück oder nach unten zu schauen und einfach nur unversehrt oben anzukommen. Leider konnte ich in dieser Situation auch niemandem um mich herum helfen, da ich Angst hatte, bei einer falschen Bewegung zu stürzen und alle hinter mir mit runter zu reißen. Oben angekommen wurde es nicht besser. Weder der Regen, noch der Wanderweg zeigten Erbarmen mit uns. Ähnlich unsicher ging es dann wieder relativ steil und felsig bergab. Die Landschaft dort war eine reine Ansammlung verschieden großer Steinbrocken. Sowas habe ich noch nie zuvor gesehen! Einige sagten, es sehe aus wie bei Herr der Ringe in Mordor. Die Geschichte habe ich weder gelesen noch gesehen, doch die Beschreibungen der anderen, schienen sehr zutreffend zu sein. Nach dieser langen Tortur war die Stimmung bei vielen an einem Tiefpunkt angelangt. Zum Nachmittag legte sich der Regen. Die Anstrengungen des Tages waren in unseren Augen unschwer zu übersehen. Einige aus der Gruppe hatten Schwierigkeiten bis zu unserem Tagesziel zu kommen. Als wir an einer der Selbstversorgerhütten ankamen, entschieden wir uns dafür, die Nacht darin zu verbringen. Insbesondere die vollkommen durchnässten Schuhe mussten irgendwie wieder trocken werden. Die Brennholzscheite wurden in die Kamine gesteckt und Schuhe und Klamotten drum herum aufgehangen. Für mich war es irgendwie komisch und schade in einem Bett zu schlafen. Immerhin war ich doch auf sowas, wie einen Survival-Trip eingestellt. Rückblickend freue ich mich über dieses Erlebnis. Zwei weitere Wanderfrauen teilten sich mit uns die Hütte. Es war überraschend auf weitere Menschen zu treffen, die die selbe Route liefen wie wir.
Mit der Zeit wurden wir routinierter. Morgens weckte uns Holger Wendelin, wir frühstückten in kleinen Grüppchen, bauten die Zelte ab, tauschten uns kurz über die bevorstehende Strecke aus und wanderten weiter. Lupo, unser vierbeiniger Begleiter wurde im Laufe der Wanderung mit allen warm und übernahm stets die Rolle des Gruppenzusammentreibers. Meistens gab es am Nachmittag eine mittelgroße, gemeinsame Snackpause und am Abend, erst nach dem Aufbau der Zelte, das große warme Essen (trotz meines Futterneides wurde ich stets satt oder aß das, was bei den anderen Kochgruppen übrig blieb auf). Da es abends oft besonders kalt und windig wurde, saßen wir nur in unseren kleinen Kochgruppen zusammen und verkrochen uns ziemlich schnell in unsere Zelte.
Bei den größeren „Toiletten“-Gängen suchten wir uns neben der geeigneten Stelle – meistens handelte es sich dabei um einen großen Steinbrocken - auch noch genügend große Steine, um unser Häufchen entsprechend abzudecken. Nach Aufbau der Zelte (oder bei einigen auch morgens vor dem Abbau) kam die große Entscheidung: „Gehe ich mich jetzt im eiskalten See waschen oder morgen? Oder doch erst am nächsten Abend?“ Immerhin sollten wir uns an unsere Wandergerüche schon gewöhnt haben, da kann man sich ja mal der großen Körperreinigung entziehen. Anschließend erwies sich jedes Waschen als sinnvoll und anregend für den Kreislauf. An manchen Abenden cremten wir uns zu dritt in unserem Zelt die Füße mit Hirschtalg ein und schauten uns die Bilder der vergangen Tage an. Mit den gelaufenen Kilometern, stieg unser Verbrauch an Tape und Blasenpflastern rasant an. Sogar Lupo riss sich eine Wolfskralle auf und bekam unter klagendem Schmerzjaulen widerwillig seine Pfote verbunden.
An manchen Tagen liefen wir besonders eng zusammen und gaben hier und da Hinweise für die hinter uns laufenden oder plauderten frei und unbekümmert mit denen, die gerade in unserer Nähe liefen. Es kam aber auch vor, dass einige einfach nur für sich liefen und den Moment genossen haben.
Am vorletzten Tag erreichten manche ihre konditionelle Grenze und nutzen die letzte Gelegenheit, um in einer Hütte zu übernachten und Kraft für den Endspurt zu tanken. Trotz meiner immer schmerzhafter werdenden Blase unterm Fuß, wollte ich unbedingt weiter laufen und schloss mich dem weitergehenden Teil an. Die „Mordor“-Landschaft veränderte sich im Laufe einiger Kilometer wieder in ein belebtes grün mit Bäumchen und Pflanzen. Der letzte Teil des Wanderwegs führte an vielen unterschiedlich großen und wunderschönen Wasserfällen vorbei.
Die in dem Nationalpark ansässigen Moschusochsen haben wir leider (oder zum Glück, da sie aggressiv auf große Gruppen reagieren) nur durch ein Fernglas sehen können. Doch hin und wieder und besonders zum Ende hin, begegneten wir einigen Schafen. Lupos Aufmerksamkeit hatten sie direkt. Manch ein Schaf schien sich ein Spaß aus dem Wolfshund zu machen und ging, statt ängstlich davon zu eilen, selbstsicheren Schrittes auf ihn zu. Da musste am anderen Ende der Leine, besonders viel Kraft zum Zurückhalten angewendet werden.
Die Sprinter standen noch am Startpunkt unseres Wanderwegs und mussten irgendwie den Weg zurück zu uns finden. Für vier von uns ging es am nächsten Morgen besonders früh los, um per Anhalter zum Ausgangspunkt zu trampen. Als wir als Gesamtgruppe wieder in den Sprintern saßen und auf einem Campingplatz ankamen, machte sich hier und da schon der, wie Ronja sagte, „Erinnerungseuphemismus“ breit. Die Anstrengung der vergangenen Tage verwandelt sich in eine schöne und unvergessliche Erinnerung. Frisch geduscht und in sauberen Klamotten, konnten wir uns endlich mal als Gesamtgruppe um ein Lagerfeuer setzen. Am nächsten Tag dann die große Reflexion:
"Ein riesengroßes Dankeschön an Holger, Anja und Michel, die uns diese wunderschöne Exkursion geschenkt haben. Für das Vertrauen, die Vorbereitung und Zeit“ – so ähnlich und noch schöner formulierte jemand eine Rückmeldung. Ich hätte nicht damit gerechnet, das mir dabei die Tränen kommen würden. Die Reflexionsrunde wurde für mich unerwartet sentimental. Mir fielen Situationen ein, in denen die Wanderroute viele Möglichkeiten des Beschreitens dargeboten hat. Nicht immer folgte ich den Schritten meines/meiner Vorgänger:in, was den/die eine oder den anderen hinter mir hin und wieder irritierte und auch einen für sich eigenen Weg wählte. Nicht jeder Hinweis über wackelige Steine war nützlich. Manchmal führten die Hinweise der vorneweg laufenden zu Verunsicherung, da sie weiter hinten scheinbar nicht mehr zutreffend waren. An manchen Stellen wurden wir um besondere Vorsicht gebeten und vom Klettern eindrücklich abgeraten. In diesen Momenten fühlte ich mich teilweise bevormundet, da ich mir diese Etappe durchaus zugetraut hätte. Daraus resultierend, ging meine Souveränität ein wenig verloren. Ich wurde ängstlicher und wusste nicht mehr ob ich oder die anderen meine Fähigkeiten falsch einschätzten. Abschließend nehme ich vor allem diese Erfahrungen mit in die Praxis der Sozialen Arbeit. Jede:r von uns geht seinen/ihren eigenen Weg. Nicht jeder Weg erweist sich als fest und sicher. Wir tragen unterschiedliche Rücksäcke, Schuhe und Kleidung. Alles gibt uns unterschiedlichen Halt. Auch sind unsere Rucksäcke im metaphorischen Sinne mit unterschiedlichen Erfahrungen und Prägungen gefüllt. So können wir als angehende Sozialarbeiter:innen dies als Beispiel nehmen, um unseren Klient:innen Vertrauen zu schenken und sie entsprechend ihrer Fähigkeiten auf ihren individuellen Wegen der Selbstfindung zu begleiten und zu unterstützen.
Wenn es in Zukunft nochmal die Möglichkeit geben sollte, an einer mehrtägigen Wanderung teilnehmen zu können, würde ich sofort wieder mitkommen. Dann aber mit weniger Skepsis gegenüber meinen Fähigkeiten und einer geschulteren Einschätzung der Packliste!